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Das Problem mit der Marktwirtschaft im Krankenhaus

von Dr. Iris Minde

 

Die deutsche Gesundheitswirtschaft braucht mehr Marktwirtschaft, verkündete der Vorstand des „Gesundheitskonzerns“ Fresenius, Stephan Sturm. Er verkündete es ausgerechnet zum Fest der Barmherzigkeit und Liebe - an Weihnachten! Es ist kaum ein Ereignis bezeichnender für die Mißverständnisse und Widersinnigkeiten hierzulande.
Die Grundlage des Sturmschen Plädoyers, welches die FAZ - Pflichtblatt der Börsen - publizierte, ist eine bis dato unbewiesene Hypothese: Marktwirtschaft löst alle Probleme der Menschen. Sturm, und mit ihm viele andere in Wirtschaft und Politik, glauben sogar, dass Marktwirtschaft die Probleme des Gesundheitswesens - und speziell der Krankenhäuser in Deutschland gleich mit lösen würde. Sein Text jedenfalls behauptete, das Problem der Kliniken durch fehlendes Pflegepersonal ließe sich durch „mehr Marktwirtschaft“ lösen. Wahrscheinlich benötigen wir, um Goethe zu zitieren, vor allem eines: „mehr Licht!“

Denn bei Lichte betrachtet stellen wir fest, dass die - so als monolithische Einheit nicht existierende - Marktwirtschaft keinesfalls nur Probleme löst. Neben weiterhin ungelösten Problemen, derer auch die Marktwirtschaft (bisher) nicht Herr werden konnte, hat sie in Form des westlichen Lebenstils gerade auch Probleme geschaffen, die der Gesellschaft als Ganzer und dem Gesundheitswesen im Speziellen zu schaffen machen. Ursächlich dafür ist die „dem Markt“ innewohnende Eigenschaft, Bedürfnisse mittels Werbung überhaupt erst zu wecken, sie sodann im Handumdrehen zu bedienen und schliesslich gar zu perpetuieren. Andere Bedürfnisse - Stichwort Bewegung - werden mithilfe der Marktwirtschaft vernachlässigt, weil Mobilität und Bequemlichkeit („Convenience“) propagiert werden. Fettleibigkeit und Diabetes bereits bei Kindern sind somit einige der Folgen des Wohlstands, den die mit dem Euphemismus „Marktwirtschaft“ nur leicht bedeckte Konsumgesellschaft des Westens überhaupt erst möglich gemacht hat. Etwas mehr Differenziertheit wäre also wohl bei dem Ruf nach „mehr Markt“ per se angebracht.
Doch auch im eigentlichen Bereich des Marktwirtschaftlichen gibt es Argumente, die den Zweifel an der Validität von Sturms Ansatz nähren:
Die Personalnot in der Pflege ist in ziemlich direkter Linie auf den Systemwechsel im stationären Gesundheitswesen zurück zu führen. Weg von der Daseinsvorsorge als Bringschuld des Sozialstaats, hin zu einer marktwirtschaftlichen Betrachtung und Organisation der Versorgung. Während die Unterfinanzierung der Krankenhäuser chronisch anhielt und als Druckmittel genutzt wurde, hat das DRG-System vor allem „Diagnosen“ belohnt. Wen sollte es da überraschen, dass ärztliches Personal zur Diagnose (Bedingung 1) und teure Apparate für die Therapie von diagnostizierten Patienten (Bedingung 2) an Bedeutung gewannen, während die personalintensive Pflege durch zunehmende Arbeitsverdichtung und „Rationalisierungspotenziale“ massiv unter Druck geriet. Verhältnismäßig schlechte Bezahlung für hohe Arbeitsbelastung und Verantwortung tat das übrige, um Berufseinsteiger wie Bestandspersonal kontinuierlich zu desillusionieren und das Berufsbild Pflege unattraktiv zu machen. Marktwirtschaftlich übrigens eine absolut lehrbuchmäßige Entwicklung: Verlagerung der Aufwände und Erlöse in Bereiche mit „höherer Wertschöpfung.“
Problematisch hieran ist allerdings, dass die Bezeichnung „höhere Wertschöpfung“ eine rein quantitativ-materielle Betrachtung des Werte-Begriffs wiedergibt. Der immaterielle Wert einer fürsorglichen „Wert-Schätzung“ jener Mitarbeiter, die die Patienten pflegen, hat sich in den Jahren seit Zuspitzung der Fehlanreiz-Problematik im DRG-System bestenfalls „in einer Seitwärtsbewegung“ befunden, also „charttechnisch“ keine positive Entwicklung genommen. Woran liegt das?

Wirtschaft wird seit einigen Jahren auch wissenschaftlich mit Spieltheoretischen Modellen untersucht. James P. Carse hat in diesem Zusammenhang bereits 1986 postuliert, dass jede menschliche Interaktion als Spiel betrachtet werden kann. Er unterschied zwei Arten von Spiel: endliche Spiele und unendliche. Ein endliches Spiel hat festgelegte Regeln, eine festgelegte Anzahl von Spielern und das Ziel eines jeden Spielers besteht darin, das Spiel zu gewinnen, indem ein zuvor festgelegtes Ziel vor den Mitspielern erreicht wird.
Unendliche Spiele dagegen haben jenseits allgemeiner gesetzlicher Normen weder enge Regeln noch eine exakt definierte Anzahl von Spielern. Es kann jederzeit ein neuer Spieler ins Spiel eintreten, es gibt Spieler im Spiel, die sich möglicherweise nicht einmal kennen, und das Ziel besteht darin, das Spiel zu spielen und nicht enden zu lassen.
Fußball oder Schach sind demnach klassische endliche Spiele. Die Ehe oder auch ein Verein ist ein unendliches Spiel, welches zwei (Ehe) oder mehr Spieler (Verein) miteinander, aber nicht gegeneinader spielen. Diese Spiele vertragen keine Dominanzbestrebungen. Man kann sie nur spielen um ihrer selbst willen. Gewinnen kann man sie nicht!

Die Wirtschaft, unternehmerischer Wettbewerb, so der Anthropologe und Unternehmensberater Simon Sinek in seinem Buch „Das unendliche Spiel“ wird zunehmend und irrtümlich als endliches Spiel verstanden und gespielt. „Marktführerschaft“, Renditeziele von 15, 20 oder mehr Prozent oder auch nur die Vorstellung, den „Shareholder-Value“ zu priorisieren, sind Ausprägungen einer verengten Sichtweise auf ein vermeintlich gewinnbares „endliches Spiel“.

Wer die Feststellung teilt, dass Wirtschaft per se ein unendliches Spiel ist, dessen Zweck in einem wert-schöpfenden Beitrag für das Gemeinwesen besteht, muss anerkennen, dass die Priorisierung von Eigennutz per se nicht nachhaltig sein kann, da solcher „Egoismus“ unverzichtbares Vertrauen im Team zerstört. Mit Vertrauensverlust einher gehen auch die Abnahme an Kooperationsbereitschaft in der Organisation und der im Extremfall vollständige Verlust jeglicher Innovationsfähigkeit einher, stellt Sinek fest. Wer sich im stationären Gesundheitswesen auch nur ansatzweise auskennt, weiß, in welche Richtung der Trend geht, mit dem wir es als Gesellschaft zu tun haben!

Ja, die fehlgeschlagenen sozialistischen Experimente haben gezeigt, dass staatlicher Dirigismus keine Lösung ist. Erst recht keine, die die Menschen wollen. „Marktwirtschaft“ kann jedoch so lange keine Lösung sein, wie das System unterfinanziert ist und über Dimension und Dichte des Versorgungsnetzes kein demokratisch legitimierter Konsens besteht. Im Gegenteil: in der gegenwärtigen Situation ist „Marktwirtschaft“ eine zusätzliche Belastung für das System, weil damit kommerzieller Eigennutz legitimiert wird, während die im System tätigen Institutionen sich im endlichen Spiel des Verteilungskampfes um viel zu knapp dimensionierte Finanzmittel befinden. Dieses Spiel ist nur deshalb noch nicht völlig gescheitert, weil die Beschäftigten im ärztlichen Dienst und vor allem in der Pflege ein extrem hohes Maß an intrinsischer Motivation mitbringen. Sie wollen der „gerechten Sache“ dienen, von der auch Simon Sinek sagt, dass sie die Grundbedingung für das Gelingen eines unendlichen Spieles ist. Anstatt diese „gerechte Sache“ durch Rahmenbedingungen zu fördern, die die Berücksichtigung der Interessen aller „Stakeholder“ ermöglichen, werden gesundheitspolitisch und betriebswirtschaftlich seit Jahren Entscheidungen getroffen, welche Einseitig die Interessen weniger Shareholder befördern.

Auch dieser Fokus auf den „Shareholder Value“ ist nichts als eine unbewiesene ökonomische Theorie im Geiste endlicher Spiele. Sie stammt von Milton Friedman. Der erhielt hierfür sogar den Nobelpreis für Wirtschaft, obwohl das Konzept faktisch den ethisch-moralischen Offenbarungseid im Kern in sicht trug: Gesetze allein, so Friedman, bestimmten die Grenzen innerhalb derer sich Unternehmen einzig und allein um den Nutzen der Anteilseigner zu kümmern hätten. Diese seien als Steuerzahler ja dann auch Beitragende zur Aufrechterhaltung des Gemeinwesens.

Wohlgemerkt: Diese Theorie aus den 1970er Jahren ist nie bewiesen worden. Die Sub-Prime-Bankenkrise, die sich zur Weltwirtschaftskrise 2009 auswuchs, spätestens jedoch die Skandale um Panama-Papers und Cum-Ex-Betrug haben inzwischen dagegen mehrfach bewiesen, dass es gerade der Egoismus von Privaten Eignern ist, der nach Gesetzeslücken und Steuerschlupflöchern geradezu lechzt, und der eben genau das Gegenteil von ethisch-moralisch verantwortlichem Handeln ist, welches wir im Gesundheitswesen so sehr benötigen und welches dort immer schwerer zu entdecken ist!

Ob das stationäre Gesundheitswesen überhaupt geeignet ist, kommerzielle Eigeninteressen zu berücksichtigen und zu ermöglichen, ist eine Frage von noch grundsätzlicherer Natur, die ohne eine Auslegung des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht wohl kaum geklärt werden kann. Unabhängig davon jedoch ist heute überdeutlich, dass „die Marktwirtschaft“ nach dem Verständnis von börsennotierten Gesellschaften wie Fresenius eher Teil des Problems als Teil der Lösung im Gesundheitswesen sein dürfte.

Ja, wir benötigen Wettbewerb im Gesundheitswesen! Aber es muss ein Wettbewerb im Geiste des unendlichen Spiels sein. Dabei kann es nur um einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess gehen („wie können wir besser, effizienter, sparsamer werden?“) , der die Interessen von Menschen in seinem Zentrum berücksichtigen und schützen muss! Menschen, die als Patienten umsorgt und gepflegt werden müssen, aber auch Menschen, die diese Pflege und Fürsorge leisten müssen. Mitarbeiterorientierung ist das Schlüsselwort auch für Wirtschaftlichkeit! Das zeigt nicht zuletzt die Geschichte des Unternehmers Bob Chapman und seiner Firma Barry-Wehmiller. Das 1885 gegründete Unternehmen verfolgt seit bald dreißig Jahren konsequent den Ansatz von „Truly Human Leadership“, also einer Führungskultur, die das Wohl der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Aller Menschen, mit denen es zu tun hat.

An erster Stelle steht bei Barry-Wehmiller das Wohl der Mitarbeiter. Sie werden im Geiste des unendlichen Spiels geführt und der Erfolg des Unternehmens bemisst sich daran, wie es den Menschen geht, die in ihm beschäftigt sind, und jenen, die von ihm als Kunden, Lieferanten und anderen Stakeholdern bedient werden. Aktionäre stehen in dieser Reihe zu berücksichtigender Interessen ganz am Schluss. Und Börsen, die Quartalsberichte verlangen, kommen überhaupt nicht vor. Trotzdem hat das Unternehmen mit dieser Politik einen überwältigenden Erfolg, der sich seit 1997 (!) in einem Wachstum von jährlich 15 Prozent (!) und einem Umsatz von heute drei Milliarden US$ ausdrücken lässt. Freilich als Resultat und nicht als Selbstzweck!

 

Ausführliche Fassung eines in der taz vom 06.01.2020 veröffentlichten Beitrags als Antwort auf den Vorstandsvorsitzenden der Fresenius SE, Stephan Sturm.





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