Berlin. Die Diskussion um die in der medizinischen Wissenschaft und in der Öffentlichkeit schon seit vielen Jahren kritisch verfolgte Verbreitung von Pseudowissen hat aus Sicht der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften AWMF eine neue Dimension erreicht. Auslöser sei die zunehmende Ausbreitung einer akademischen Scheinwelt – getrieben durch sogenannte „Raubverlage“, „Pseudojournale“ und „Pseudokongresse“, die Wissenschaftlichkeit vorgeben, jedoch die Grundprinzipien der Wissenschaftlichkeit zugunsten rein wirtschaftlicher Interessen fundamental missachteten.
Die AWMF ruft daher zu mehr Problembewusstsein auf. Sie setzt auf Gegenmittel wie das Paradigma der evidenzbasierten Medizin, internationale Initiativen zur Förderung der Qualität medizinischer Forschung, auf die Leitlinien ihrer aktuell 178 Mitgliedsgesellschaften als qualitätsgesicherte Information und auf die Stärkung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung.
„Die medizinische Wissenschaft muss sich verstärkt für die Prävention, Identifikation und Kennzeichnung von wertloser, eindeutig interessengeleiteter oder pseudowissenschaftlicher Forschung einsetzen, um nachteilige Folgen für die medizinische Versorgung und für individuelle Patienten zu verhindern“, fordert Professor Dr. med. Rolf Kreienberg, Präsident der AWMF. „Hierfür eignen sich Instrumente, die auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen“, so Professor Dr. med. Christoph Herrmann-Lingen, Vorsitzender der Kommission Forschung und Lehre der AWMF. Dazu gehörten die obligate Registrierung klinischer Studien, die Transparenz von Interessenkonflikten, Regeln für transparente Publikationsprozesse einschließlich eines definierten Begutachtungsverfahrens („peer review“) und die kostenfreie Verfügbarkeit wissenschaftlich hochwertiger Publikationen („open access“).
Gerade die grundsätzlich zu begrüßende open access-Bewegung habe in den letzten Jahren aber auch zu den gravierenden Fehlentwicklungen beigetragen. Sie biete auch den Geschäftsraum für pseudowissenschaftliche Verlage und Publikationsplattformen. Zur Fehlentwicklung trügen auch Fehlanreize der Forschungssteuerung bei, die vielfach noch zu einseitig quantitative Bewertungsmaßstäbe setze. „Der Druck, vor allem viel zu publizieren, („publish or perish“, also publizieren oder untergehen) könne womöglich auch zu explizitem wissenschaftlichem Fehlverhalten bis hin zur Publikation gefälschter Ergebnisse (‚fake science‘) verleiten.“
Die AWMF fordert daher die konsequente Prüfung der Einhaltung international konsentierter Gütekriterien medizinischer Forschung. Nach den Empfehlungen der AWMF sollten nur solche Publikationen als Qualitätsnachweis anerkannt werden, die in Publikationsorganen erscheinen, die entweder in etablierten Verzeichnissen seriöser Fachzeitschriften gelistet oder von wissenschaftlichen Fachgesellschaften auf der Basis transparenter Kriterien als qualitätsgesicherte Publikationsorgane im jeweiligen Fachgebiet anerkannt sind. Die AWMF führt eine entsprechende Kriterienliste und eine „Weiße Liste“ der Zeitschriften ihrer Mitgliedsgesellschaften.
PatientInnen und BürgerInnen müssten zudem befähigt werden, Spreu und Weizen medizinischer Information zu unterscheiden. Dazu trügen Laienversionen hochwertiger Leitlinien der Fachgesellschaften in der AWMF bereits bei. Ergänzend fordert die AWMF die systematische Verankerung von Kenntnissen der evidenzbasierten Medizin in der medizinischen Aus- und Weiterbildung sowie die Förderung von Gesundheitsbildung in der Bevölkerung – beginnend bereits in der Schule.